Hochsensibel und stark im Leben
Seit etwa 27 Jahren nimmt das Thema Hochsensibilität, oder korrekter:
„Sensory Processing Sensitivity“, seinen berechtigten Raum in der Gesellschaft ein. Seit Dr. Elaine Nancy Aron 1996 ihre Forschungen in den USA veröffentlichte, haben viele Autoren, Psychologen, Berater und hochsensible Laien darüber geschrieben und Erfahrungen ausgetauscht. Mittlerweile gibt es auch in Deutschland Dissertationen zu dem Thema sowie eine Menge Fachliteratur. Dennoch ist das Thema noch nicht jedem Arzt und Therapeuten, nicht jedem Pädagogen und Lehrer bekannt. Was es hochsensiblen Menschen jeden Alters, schwer machen kann.
"Hochsensibel" bezeichnet eine angeborene Besonderheit des Nervensystems von Menschen und auch Tieren. Sie führt dazu, dass Alltagsreize wie Geräusche, Licht, Bewegungen, haptische Eindrücke, Gerüche, aber auch die Emotionen Anderer als intensiver und eindrucksvoller wahrgenommen werden als das bei nicht hochsensiblen Lebewesen der Fall ist.
Zig Reize im hochsensiblen Bewusstsein
Vereinfacht gesagt, bleiben dem Normalsensiblen alle Reize im Bewusstsein, die für das Überleben interessant sind und den momentanen Interessen dienen. Gehen wir über die Straße, so nehmen wir wahr, ob die Ampel rot oder grün ist, ob die Autos anhalten, die Kinder aufpassen. Bekannte erkennen, den Schirm aufspannen wenn es zu regnen beginnt. Am smartphone Nachrichten checken. Links abbiegen, den Bäcker finden, Frühstück auswählen. Das alles wird im Bewusstsein zum direkten Gebrauch gespeichert, ist abrufbar. Das sind jedoch nur ungefähr 20% von dem, was sich in unserer Umgebung ereignet. Der Rest wird tiefer eingelagert, im Unterbewusstsein. Es bleibt dort gespeichert, belastet aber nicht. Bei hochsensiblen Menschen ist das umgekehrt.
Den aufdringlichen Straßenlärm, die schwüle Luft, die Ungeduld der Kinder, den aufgeplatzten Straßenbelag, den Sonnenaufgang. Die Risse im Zaun, die neu aufgeblühte Sonnenblume in Nachbars Garten, die Arbeiter die beim Bäcker ihren Kaffee trinken, die Laune der Verkäuferin – all das bleibt hochsensiblen Menschen im Bewusstsein. Denn ca. 80% aller Reize der Umwelt drängen sich ins mentale Blickfeld. Dort wollen sie beachtet, verknüpft und verarbeitet werden.
Morgens schon geschafft?
Vergleichbar ist die hochsensible Besonderheit mit einem Einkauf: HSP (high sensitive person) nehmen alles mit was erreichbar ist. Sie packen es in ihren Rucksack und tragen es ungewollt durch den Tag. Während der nächsten Stunden wird der Rucksack immer voller. Während normalsensible Menschen gezielt auswählen und mitnehmen können, und ihren „Einkauf“ anschließend im Kofferraum nach Hause transprotieren, tragen Hochsensible so viel mit sich herum, dass sie nach wenigen Stunden schon völlig erschöpft sein können. Unabsichtlich laden sie sich die Welt auf die Schultern wie der mythologische Atlas seine Weltkugel.
Hochsensible und ihre Grenzen
Jede neue Situation kann wie ein unüberwindlicher Berg vor hochsensiblen Menschen aufragen. Die Feier am Abend mit Freunden kann bedrohlich wirken. Lärm, optische Reize und die Emotionen anderer überfluten den hochsensiblen Geist und lassen in ihm nur noch Sehnsucht nach Ruhe entstehen. Da wir uns aber wie andere Leute fühlen möchten, tanzen gehen und small talk beherrschen wollen, versuchen wir uns ständig zu verändern. Sehr viele hochsensible Menschen wollen nicht hochsensibel sein. Sie möchten sein wie die 80% normalsensiblen Menschen. Sie möchten Grenzen ziehen, um sich vor den aufdringlichen Reizen des Lebens zu schützen. Doch leider lassen sich Grenzen nicht erzwingen, das Leben nicht aussperren.
Stattdessen können hochsensible Menschen lernen, ihre eigenen Grenzen kennenzulernen und Strategien entwickeln, mit denen sie ihr hochsensibles Leben nutzen und genießen werden.
Angeborenes Potential, oder doch traumatisiert?
Hochsensibilität ist eine vererbte Eigenschaft, die sich nicht wegreden- oder wünschen lässt. Auch wenn wir uns häufig wünschen, weniger dünnhäutig und verletzlich, weniger hellfühlend zu sein, können wir diese Fähigkeiten als Potential verstehen und sie respektvoll als Teil unserer Selbst akzeptieren. Viele Therapeuten, sozial engagierte Menschen, Künstler und Philosophen nutzen ihre hochsensible Ader, weshalb sie mit Erfolg arbeiten.
Wir können Frieden mit diesen Anteilen schließen, denn das befähigt uns zu einer besonderen Sicht der Dinge und zu einem authentischen, erfüllenden Leben.
In der wissenschaftlichen Diskussion wird immer wieder die Möglichkeit in den Raum gestellt, dass hochsensibles Empfinden durch traumatische Erlebnisse hervorgerufen wird. Nach traumatischen Erfahrungen verändert sich die Wahrnehmung häufig, weil das Unbewusste Strategien entwickelt, die den Umgang mit beängstigenden Erlebnissen erleichtern sollen. Schreckhaftigkeit und differenzierte Aufnahmefähigkeit können sich ähnlich anfühlen, wie hochsensible, angeborene Anteile.
Natürlich können hochsensible Menschen auch traumatisierte sein. Daher gilt es, herauszufinden, ob die eigene Hochsensibilität aufgrund von Trauma entstanden ist. Denn Traumas können behandelt werden, wodurch der Leidensdruck und Dauerstress abnehmen und ein unbelastetes Leben möglich wird.
Angeborene Hochsensibilität ist keine Krankheit und muss nicht behandelt werden. Nur der Umgang damit braucht manchmal etwas Zeit, Verständnis und Achtsamkeit, damit eine gelingende Lebensstrategie möglich wird.
Hochsensibel und stark im Leben
Seit fünfzehn Jahren berate und coache ich hochsensible Menschen und helfe ihnen dabei, ihren persönlichen Weg durch ihr hochsensibles Leben zu finden.
Ich halte Vorträge, Seminare und Workshops über Hochsensibilität, für Eltern und in Kindertageseinrichtungen, an der VHS und der pädagogischen Fachschule in Stuttgart.
Sind Sie auch hochsensibel?
Damit Sie einschätzen können, ob Sie oder Ihr Kind zu den hochsensiblen Menschen gehören, empfehle ich Ihnen die folgende Website. Dort gibt es einen anonymen Test, mit dem Sie herausfinden können, ob Hochsensibilität Ihr Thema ist.
http://www.zartbesaitet.net/survey/site.php?a=su_onepage&su_id=1